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Freitag, 25. November 2022, 11:22

Der Baum der Früchte trug

In einem großen, weiten Tal stand einst ein Baum. Woher er gekommen war und wie lange er schon dort stand wusste niemand. Sein Stamm war so gewaltig, dass drei Leute um ihn herum gehen konnten ohne sich zu sehen. Die Äste breiteten sich zu einem weiten Schirm aus, dessen Blätter das Licht in grüngoldene Strahlen verwandelte. Kein anderer Baum war wie dieser. Jedes Jahr trug der Baum reichlich, besonders schmackhafte Früchte, denen zudem heilsame Wirkungen nachgesagt wurden.

In dem Tal gab es drei große Gehöfte, jedes an einer anderen Stelle, weit auseinander gelegen. Trug der Baum Blüten kamen die Menschen zusammen und freuten sich gemeinsam. Es gab fröhliche Lieder. Trug der Baum die ersten Früchte kamen die Menschen zusammen und tranken gemeinsam. Es gab fröhlichen Tanz. Und war die letzte Frucht geerntet kamen die Menschen zusammen und aßen gemeinsam. Es gab fröhliche Geschichten. Bei jeder dieser Gelegenheiten war es üblich, die Dankbarkeit, die alle empfanden, auszudrücken. Wer auch immer sich unter den Ästen des Baumes einfand war ihrer aller Gast. Niemand blieb in einer solchen Nacht nach dem Feiern allein unter dem Baum zurück. Woher Reisende auch kamen, aus nah oder fern. Stets wurde herzlich eingeladen mitzukommen und über Nacht zu bleiben. Man glaubte, ein solcher Gast brächte das Glück mit ins Haus. Und jeder war bemüht, jemand anderem etwas Gutes zu tun, sei es im Kleinen oder im Großen. Und ob sie viel oder wenig hatten, stets hatten doch alle genug.

Und so hätte es für alle Zeiten weiter gehen können. Wenn nicht, ja wenn nicht eines Winters ein Gedanke in die Welt gekommen wäre. Wäre er nur ein Gedanke geblieben, so hätte sich in dem Tal nichts verändert und es gäbe auch keine Geschichte zu erzählen. Doch aus dem Gedanken wurden Worte. Ganz leis nur, fast nur ein Flüstern. Kaum zu vernehmen waren sie über dem Gurgeln des nahen Baches. Doch nun, da sie in der Welt waren flogen sie wie auf Schmetterlingsflügeln lautlos hinaus. Und jedes Ohr, auf dem sie sich sanft niederließen lauschte ihnen. Und wie das so ist veränderten sich die Worte bei jeder neuen Berührung ein klein wenig. Fast unmerklich wurde ihr Muster ein anderes.

War es zu Anfangs noch hell, leicht und heiter:
"Der Baum hatte stets, schon seit alter Zeit, jedes Jahr Früchte getragen, sodass alle genug hatten. (Wir sollten dankbar sein)"

So mischten sich langsam erdfarbene Töne hinzu:
"Der Baum trug seit alter Zeit jedes Jahr Früchte und es hatte für alle gereicht. (Es ist gut so wie es jetzt ist)"

Die Farben wurden immer dunkler:
"Der Baum trug trotz seines Alters in jedem Jahr ausreichend Früchte. (So soll es bleiben)"

Und schließlich waren alle hellen, freundlichen und lieblichen Farben verdrängt:
"Der alte Baum trug im vergangenen Jahr Früchte, diese haben uns ausgereicht. (Doch wie lange noch?)"


Und die Menschen hatten ebenso düstere Gedanken.

Als nun die Zeit gekommen war, die ersten Blüten willkommem zu heissen gingen die Menschen hin zu dem Baum. Doch statt sich zu freuen uns fröhliche Lieder zu singen starrten sie missmutig den mächtigen Stamm hinauf. Ihre Blicke zählten die Blüten und es schien fast, als würde ein Aug' dem anderen den Anblick neiden. Und nach viel missgünstigem Gemurmel und Gebrumme gingen die Menschen einer nach dem anderen zurück zu ihrem Gehöft. Keiner hatte einen Blick übrig für ein junges Mädchen das ganz allein unter dem Baum zurück geblieben war. Keiner hatte es angesprochen, keiner ihm etwas angeboten und keiner es eingeladen. Und so stand es da, ganz barfuß. Große Tränen füllten die klaren Augen und rannen über die Wangen hinab. Und als der erste glitzernde Tropfen die Erde berührte war das Mädchen verschwunden. Dann schien es, als würden helle Federn umherstieben. Doch ach, es war jede dritte Blüte des Baumes. Langsam sanken sie herab und bildeten für einen Moment hauchzarte Wolken rund um den Stamm bis sie schliesslich vom Wind davon getragen wurden.

Als nun die ersten Früchte darauf warteten, vor der Sonne zu erröten machten sich die Menschen wieder auf zu dem Baum. Sie besahen sich die Früchte genau. Wieviele es wohl seien, ob diese auch bereits genügend groß seien und ob auf einer Seite vielleicht mehr wären als auf der anderen. Es herrschte Gezänk und Misstrauen. Kein Tanzbein und kein Becher wurden gehoben. Und die Menschen gingen einer nach dem anderen zurück zu ihren Gehöften. Keiner hatte einen Blick übrig für die Frau die allein unter dem Baum zurückgeblieben war. Keiner hatte sie angesprochen, keiner ihr etwas angeboten und keiner sie eingeladen. Sie hatte, in den Falten ihres Gewandes sanft eingehüllt, ein Kind an ihre Brust gelegt und summte es leise in den Schlaf. Als das Kind eingeschlafen und der letzte Ton verstummt war, war die Frau verschwunden. Dann schien es, als würde sich eine dunkle Wolke auf dem Baum niederlassen. Doch es waren unzählige Vögel die wie Schatten durch das Geäst hüpften. Sie zerhackten mit ihren Schnäbeln jede zweite Frucht bis sie sich vom Wind davon tragen liessen.

Nun war die Zeit der Ernte gekommen und die Menschen machten sich auf zu dem Baum. Ein jeder wollte so viel er nur konnte für sich selbst. Und so gab es Streit, ein lautes Schreien und Lamentieren erhob sich. Kein Mund biss in eine leckere Frucht oder erzählte eine Geschichte. Und so gingen die Menschen einer nach dem anderen zurück zu ihren Gehöften. Keiner hatte einen Blick übrig für das alte Weib das allein unter dem Baum zurückgeblieben war. Keiner hatte sie angesprochen, keiner ihr etwas angeboten und keiner sie eingeladen. Sie blickte auf die kaputten Körbe, die abgerissenen Blätter und zertrampelten Früchte und schüttelte langsam ihren Kopf. Ein silbernes Haar löste sich und als es glitzernd an der Borke des mächtigen Stammes hängen blieb war das alte Weib verschwunden. Ein Sturm kam auf. Mächtige Wolken türmten sich auf, der Wind heulte und der Regen rauschte. Ein Blitz fuhr gleissend hell auf den Baum herab. Mit einem lauten Krachen schlug er inmitten der mächtigen Krone ein. Mit einem Ächzen brach der Baum auseinander.

Die Menschen hatten das Unwetter gehört, den Blitz gesehen und das verkohlte Holz gerochen. Und so machten sie sich am nächsten Morgen auf zu dem Baum. Schwarz verkohlt lag er gespalten da und schwelte noch. Nie wieder würde er auch nur eine einzige Frucht tragen.

Schweigend hoben die Menschen ihre Blicke und sahen sich an.
Signatur von »Scintilla« Alle Dunkelheit der Welt kann das Licht einer einzigen Kerze nicht auslöschen.

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